Im März 1817 gingen im Engadin sowie im Raum Tujetsch (Tavetsch) vielerorts Lawinen ab und verschütteten zahlreiche Menschen.
Der Augenzeuge Placidus a Spescha berichtet: «Anno 1817: Den 6ten des Monats [März] löste sich die Lauine von Ruäras [Tavetsch] Abends um 8 Uhr. Sie hatte ihren Anfang am Piz Ner, und dann riss sich der Schnee vom ganzen Thal Milà los, ergriff das Dorf, die Menschen und das Vieh damit.
Unter 47 Personen, die ergriffen waren, kamen 27 ums Leben; eine einzige grub man lebend aus dem mehrere Klafter tiefen Grabe hervor; ehe man sie losmachen konnte, beichtete diese Jungfrau dem Priester und starb gleich darauf. Neben ihr war ein zwölfjähriger Knab, welcher während dem 20stündigen Begräbniss mit ihr betete und abgesondert schlief; dieser war von den heissen Ofensteinen sehr verbrannt und stark beschädigt. Er lebt noch. Der eine Arm war so verklemmt, dass er erstarrte und aufschwoll; erst nach mehreren Tagen zeigte sich wieder der Puls darin. Die Mutter und zwei Schwestern der Jungfrau lagen ohnweit dabei todt; sie hatte nur wenig Schluchzer von ihnen gehört.
In der anderen Helfte des nemlichen Hauses hatte sich die Mutter des gedachten Knaben mit einem Knäblein von der einen zur andern Stube geflüchtet; dort waren wieder zwei andere Knäblein, die ihr zugehörten, das eine im Bette und das andere in der Wiege. Beide wurden vom Schnee überschüttet und die Mutter zwischen Balken verklemmt. Nun machte der dritte Lauinenstoss sich los und alle drei befanden sich unter Dach, da die Kammer dazwischen hinweggestossen worden war; sie leben noch.
Die Familie Caduff wurde von der Lauine umgeben und sie rettete sich nächst dem Kamin hinauf; das halbe Haus wurde zerschmettert. Man schmiss, die Lawine bemerkend, die Kinder zu den Fenstern hinaus, die im Hemde davon liefen; andere aber flohen bekleidet.
Dabei giengen 5 Mühlen und 1 Holzsäge, 9 Häuser und wohl so viel Ställe zu Grunde. Von 29 Stück Viehes wurden 16 oder 17 sammt einem Pferdt lebendig ausgegraben. Von den Schmalthieren hat man noch keine Rechnung aufgenommen.
Die Lauine fuhr bis ans Rheinbett und von dort ein Stück Rheinwärts hinein. Aus Allem schliesst man, dass nur 4 Häuser in Ruäras von der Gefahr der Schneelauine sicher sind. …
Ich habe beide Lauinen, jene von Ruäras im Tavätsch und diese von Trons und Darvella in Augenschein genommen und gefunden, dass die Sicherstellung von Ruäras, Trons und Darvella nicht nur möglich, sondern auch höchst nothwendig sei.
Man muss nämlich oberhalb der Dörfer am schicklichsten Orte einen schiefen und allmählich ableitenden Stein- und Erddamm – Ustonza, Schutzwehr, Uor, Damm – aufführen. Gegen die Lauinenseite hin muss dieser senkrecht gleich einer hohen Mauer stehen; gegen die Dörfer aber wird zuerst die gute Erde bei Seite geschafft, dann die Schutzmauer mit Schutt und der Erde hinlänglich bis zu oberst zugefüllt; also verliert der Eigenthümer nichts oder sehr wenig, weil das Seinige gänzlich fruchtbar bleibt.» (Disentis, Ms. Pl Sp 30)
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Quelle Christian Rohr: Leben mit dem «Weissen Tod». Zum Umgang mit Lawinen in Graubünden seit der Frühen Neuzeit. Bündner Kalender, 174. Jahrgang (2015), 52-59
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