Der Lawinenwinter 1874 in Graubünden

“Das bemerkenswertheste meteorologische Ereignis dieses Jahrganges bildet der enorme Schneefall des Winters 1874/75, schon durch den Umstand ausgezeichnet, dass derselbe sich sehr früh, d. h. schon mit dem 15. November einstellte.

Alles brachte der Bevölkerung, namentlich in den höheren Thallagen, mannigfaches Ungemach und fast unüberwindliche Verkehrsstörungen.

Vielfach konnten die Holzvorräte nicht mehr aus den Waldungen bezogen werden; nach abgelegenen Ställen und Mayensässen musste ein Weg mit der äussersten Anstrengung, oft der Lawinen wegen mit Lebensgefahr erzwungen werden, sollte die dort winternde Viehhabe nicht wegen mangelnder Wartung zu Grunde gehen; gelegentlich fand der Verkehr zwischen Nachbarn mittelst Schnee-Tunnels statt; vielerorts brachen die Dächer unter der ungeheuren Schneelast ein, so dass dieselben in manchen Gemeinden vorsichtshalber abgeräumt werden mussten.

Einige Notizen aus den Tagesblättern mögen noch die damalige Calamität illustrieren:

(November 1874.) In Frauenkirch ging eine Lawine nieder, die zwei Ställe mit sich fortriss.

Zur Oeffnung der Strasse Klosters-Davos mussten 100 Mann drei volle Tage verwendet werden.

Die Taminser hatten ungewöhnliche Strapazen zu bestehen, um in die Maiensässe auf Kunkels den Weg zu öffnen; 40 Mann waren damit beschäftigt. Sie sanken so tief ein, dass sie den Schnee mit ihren Knien festdrücken und dann sich der Länge nach auf den Schnee werfen mussten, um mit der Brust zu bahnen.

Von Churwalden nach Parpan brauchte die Post 3 Stunden Zeit. Von Scanfs nach Zuoz (ca. 1/4 Stunde sonst zu laufen) brauchte die Post 4 Stunden.

Auf der Lenzerheide liegen solche Schneemassen, dass letzten Freitag 40 Mann nicht im Stande waren, Bahn zu brechen für die Post. Am nämlichen Tage brauchte dieselbe von Lenz weg bis auf den Marktplatz (Lenzer Heide) 4 Stunden. Der Schnee liegt dort 8 Fuss hoch. Ein bewohntes Berghäuschen nebst Stall mussten förmlich hervorgeschaufelt werden.

In Katzis soll der Schnee 3 Fuss und in Flims 7 Fuss hoch liegen.

Die Gemeinde Ems hat fast all ihr Vieh aus den Maiensässen herunterholen müssen. Im nämlichen Dorfe wurden 2 und berghalb 3 Ställe eingedrückt u.s.w.

Mannigfach waren auch die Unglücksfälle durch Lawinen, denen mancherorts Menschenleben zum Opfer fielen."
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Quelle Naturchronik 1874. Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubünden. Band 20 (1875-1876)