Der Lawinenwinter 1916/1917

Die Naturchronik 1917 im Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubünden berichtet über den Lawinenwinter 1917:

Januar 1917.
Aus dem Oberengadin wurden außerordentliche Schneemassen gemeldet, bis zum 22. große Trübung, starke Bewölkung, häufige Schneefälle und äußerst geringe Sonnenscheindauer, hierauf bis Ende des Monats außergewöhnliche Kälte.

Zwischen Lavin und Guarda wurde die Bahnlinie auf eine Länge von 150 m von einer Lawine überschüttet und die elektrische Leitung zerstört.
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März 1917.
Aus Zernez wurde der Tagespresse Ende des Monats berichtet: In Fra St. Flurin hat eine Staublawine kürzlich die Alpstallungen für etwa 100 Kühe vom Fundament weg auf die andere Seite des Tales hinübergetragen und dort abgesetzt. Zum drittenmal seit 50 Jahren sei die Alp durch Lawinen schwer heimgesucht worden.

Die Säumerkolonne nach dem Umbrail wurde durch Lawinen blockiert. Der Schnee liegt in der Gegend bis acht Meter tief und von zahlreichen Unterkunftshütten der Grenzwachen schaue kaum mehr die Spitze zum Schnee heraus.

Auch auf dem Julier liegen noch unglaubliche Mengen Schnee. Die Telegraphendrähte seien für die Hand des Reisenden erreichbar und zur Hospiztüre müsse man noch hinuntersteigen, während zur apern Zeit ein paar Stufen zu ihr hinaufführen. („Fr. Rätier".)

Auf dem Berninapass ist die Schneehöhe auf 485 cm angestiegen, und die Berninabahn musste den Verkehr für längere Zeit einstellen. Bei den Berninahäusern fuhr eine grössere Lawine zu Tale, die an den dortigen elektrischen Leitungen grösseren Schaden anrichtete.
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April 1917.
Über die Schneeverhältnisse im Oberengadin teilt Herr A. v. Flugi mit: „Im ganzen Oberengadin lagert der Schnee in der Talsohle 2—2,5 m hoch, auf den Bergpässen (Julier) und höheren Gebirgslagen 3—3,5 m. Es, sind dies Schneemassen, wie man sich nicht erinnert, in unserem Tale und noch in dieser vorgerückten Jahreszeit je gesehen zu haben.

Auf der Station Bevers hat man seit Beginn der meteorologischen Beobachtungen daselbst im Jahre 1850 noch nie so grosse Schneehöhen gemessen wie in den vergangenen Tagen. (198 cm am 2. und 225 cm am 5.) Infolge dieser grossen Neuschneemengen sind in dieser Zeit im ganzen Tale und auf den Bergpässen grössere Verkehrsstörungen und Lawinenstürze eingetreten.

Am 2. sind wegen starken Schneefalls und Lawinengefahr über den Julier keine Posten abgefertigt worden und erst am 4. abends ist die von Chur abgehende Post wieder in Silvaplana angelangt, indessen der von hier morgens abgehende Postkurs nur bis zum Hospiz vordrang und daselbst übernachtete. Auf dem Julierpass sind wieder mehrere grössere Lawinen zu Tal gefahren, von denen eine der grössten, von Mutaun (Ausläufer des Piz Polaschin) herunter, die Julierstrasse ob „Buon Arrivo" auf einer Länge von 200 m mehrere Meter hoch verschüttete.

Auf der Malojaroute konnte ebenfalls der Verkehr nur mit Mühe aufrecht erhalten werden und musste die letzte Malojapost am 3. abends in Sils übernachten. Wegen starken Verwehungen und Schneerutschen längs des Silvaplanersees benötigte dieser Postkurs am 4. vormittags 31/2 Stunden, um die Strecke Sils-Silvaplana zurückzulegen (Normalzeit 40—50 Minuten).

Längs des Lej-Giazöl ist die seit Frühjahr 1888 nicht mehr vorgekommene Lawine „Curtin da Gennas" in besonders grossem Umfange niedergegangen, hat die Landstrasse 6—8 m hoch mit Lawinenschnee aufgefüllt und ist über den daselbst recht tiefen Abfluss des Lej-Giazöl hinweg noch 40—50 m weit in die Wiesen von Sils vorgedrungen.

Etwa 100 m weiter aufwärts hat eine andere Lawine, von der längs des Lej-Giazöl sich befindlichen steilen Felswand herunterstürzend, den ganzen Seespiegel durchquert. Durch die Wucht dieser beiden Lawinen wurden auf eine grosse Strecke hin alle Telegraphenstangen zerstört und Teile davon noch weit in das Wiesengelände geschleudert.

Grösseren Waldschaden hat dieses Mal wieder die Gemeinde St. Moritz durch drei vom Piz Rosatsch niedergegangene Lawinen bei St. Moritz-Bad (God dellas cravuneras, Drosa plauna und God del Alp Guanaigl) erlitten, indem dieselben in den dortigen, meist aus Jungwuchs bestehenden, eher spärlich bewachsenen Waldbeständen grosse Lücken geschlagen und viel Stämme mit sich in die Tiefe gerissen haben.

Im Beversertal, gegenüber Bevers-Au, und bei Pontresina erfolgten sodann noch kleinere Lawinenstürze. Jetzt Ende April ist die Talsohle noch unter einer kompakten, über 1,5 m hohen Schneeschicht begraben. Selbst die höchsten Gartenzäune ragen kaum aus dem Schnee heraus und — fährt noch im ganzen Oberengadin der Schlitten, ein Vorkommnis, das seit dem Frühjahr 1888 bei uns nicht mehr eingetragen ist."

Herr Pfr. Th. J. Berther in Platta-Medels berichtet : „Der Monat April war ein Monat des Schreckens. Am 3. April hatten wir 140 cm Neuschnee zur grossen Menge des alten. Was man fürchtete und ersorgte, trat leider ein. Riesige Lawinen donnerten von den Bergen und richteten grossen Schaden an. 8 Stück Grossvieh und über 50 Stück Kleinvieh wurden verschüttet und getötet, 10 Gebäude total ruiniert und viele stark beschädigt, so dass sich dieser Schaden allein auf mehr als 35,000 Fr. beläuft, derjenige am Boden und Wald nicht gerechnet. Leider ist auch ein Leben zu beklagen. Ein Internierter kam in der Lawine um."

In Davos, St. Antonien, Arosa, Parpan lagen anfangs April noch bis 2 m alten Schnees und darüber. Im Münstertal in Fuldera mass man auf einem Dach sogar 2,35 m Altschnee.

Nach dem grossen Schneefall vom 1./2. April wurde aus Küblis zirka 40 cm, aus Conters i. P. 65 cm und aus Furna 80 cm Neuschnee gemeldet.

In Santa Maria im Münstertal stürzte in der Nacht vom 4./5. infolge der Gewalt des Schneedrucks beinahe das ganze Stalldach des Capolschen Effektes ein und begrub unter sich 14 Militärpferde, die aber gerettet werden konnten.

Die Ofenbergstrasse wurde bei der Galerie oberhalb Zernez von einer Lawine verschüttet.

Zwischen Ausser- und Innerferrera hat eine Lawine im Walde grossen Schaden angerichtet und die Strasse so mit Schnee und Geröll überführt, dass der Fuhrwerkverkehr für einige Tage unterbrochen war. Es wurde Militär zur Öffnung der Strasse herangezogen.

Die Strasse durch das Unterengadin von Schuls nach Martinsbruck-Weinsberg-Samnaun war während einigen Tagen durch Lawinen vollständig gesperrt, so dass das Samnauner Tal von der Welt ganz abgeschlossen war.

Am 5. geriet der Morgenzug Engadin-Chur der Rhätischen Bahn bei Naz oberhalb Bergün in eine Lawine, die in den Zug hineinfuhr und die Maschine zum Entgleisen brachte. Der Verkehr war nur kurze Zeit unterbrochen.

Auch im Safiental sind mächtige Lawinen niedergegangen, so dass die Post längere Zeit nicht mehr passieren konnte.

Im oberen Teil des Glecktobels auf Gemeindegebiet von Maienfeld stürzte eine Lawine nieder, welche die zur Festung Luzisteig führende Wasserleitung zerstörte.

Samstag, den 21. ds. sind die Gemeinden Truns und Schlans laut „B. Tgbl." von einem schweren Lawinenunglück heimgesucht worden. Eine Spitze der Lawine rückte bis zirka 1000 m ob dem Dorfe Truns vor, eine andere erreichte beinahe den Weiler Cartatscha. Eine Waldfläche von über 15 ha mit einer Holzmasse von 1500 und mehr Kubikmeter ist zerstört. In den Maiensässen Tiraun wurde ein Heustall weggefegt. An Vieh und anderer Habe ging nichts verloren. Die Anbruchstelle der grossen Lawine liegt in der Schlanseralp, am Fusse des Piz Tumbif (Brigelserhörner).
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Mai 1917.
Längs der Malojaroute sind mehrere grössere Grundlawinen abgegangen. So am 29. April bei der Brücke Sils-Baselgia zum zweiten Mäle in diesem Winter die Lawine von „Pignoulas" und am 2. Mai unweit Plaun da Lej die Lawine „del Crott", welch letztere die Landstrasse auf eine Länge von 300 m mehrere Meter hoch mit Lawinenschnee auffüllte, viel Bäume, Gestrüpp und Geschiebe mit sich führte, und sich auf der Eisdecke des Silsersees teilweise noch weit vorschob. Abbruchstelle dieser Lawine hoch oben an den Hängen des Piz Materdell in 2600 m Höhe. Seit langer Zeit ist an dieser Stelle keine grössere Lawine mehr vorgekommen. (A. v. Flugi.)

Über Lawinen im Bergell berichtet Herr Präs. G. Giovanoli in Soglio : Von Mascio stürzten fünf Lawinen durch das Tobel des Baches Caroggia hinunter bis zum Kastanienwald. Eine andere erreichte durch das Tobel des Gadanecciobaches die Talsohle. Im Maiensäss Plan Vest wurden sechs Ökonomiegebäude durch eine Lawine zerstört."
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Quelle Naturchronik 1917. Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubünden. Band 59 (1918-1919)

Die Rhätische Bahn wurde im 1917 ausserordentlich schwer von Lawinen betroffen. Hans Conrad schreibt:

“Schon am 1. Januar hatte die Val Punia-Lawine unterhalb Lavin die Fahrleitung bei km 130.720/832 zerstört, woraus sich ein 20stündiger Betriebsunterbruch ergab.

Nach einem ruhigen Februar und März ereigneten sich dann im April Lawinen in einem Umfange, den man bis dahin glücklicherweise nicht gekannt hatte.

Am 2. April verursachte eine Staublawine am Nordportal der Chanaletta-Galerie einen Unterbruch von zwei Stunden.

Noch vor Mitte April erreichten anschliessend eine Reihe von Lawinen aus den Verbauungsgebieten von Muot und Maliera das Geleise:

- am 4. nachmittags zerstörte die erste die grosse Arbeiterbaracke auf Muot sut und bedeckte das Geleise bei km 78.724/904 bis 4 m hoch (Unterbruch bis Mitternacht);

- am 5. und 7. über führten mächtige Lawinen aus Maliera das Geleise in 4 m Höhe bei km 82.700/930;

- am 10. verursachte eine Lawine aus dem Gebiet von Muot-Bleis leda schwere Schäden an Schneebrücken, Verpfählungen und Mauern, von denen sechs übereinanderliegende zerstört wurden, und einen Unterbruch von zwei Stunden;

- am 14. April 15 Uhr endlich stürzten bei km 79.100/730 vier neue Lawinen von Muot herunter auf das Geleise, dasselbe 4—8 m hoch zuschüttend. Die Störung dauerte bis am frühen Morgen des folgenden Tages.

In der gleichen Periode blockierten ein Schneerutsch bei km 122.000 unterhalb Zernez, fünf Rutsche und Lawinen im Val Bever und die Seehorn-Lawine auf der linken Seite des Davosersees das Geleise.

Die Lawinen von Muot und Maliera veranlassten die sorgfältige Sicherung ihrer Anbruchgebiete durch weitere Verbauungen, mit dem Erfolg, dass seither wenigstens von Muot herunter keine Lawinen mehr bis auf die Bahnlinie gelangten.

Das bisher grösste Unglück ereignete sich am 29. April bei Zug 8, der, von Chur kommend, um 17 Uhr hätte in Davos eintreffen sollen. Er wurde von der Drusatscha-Lawine, die wenig unter dem Hörnli (2448 m) losgebrochen war und das Geleise in einer Breite von 200 m und einer Mächtigkeit bis zu 10 m erreichte, (seit der Bahneröffnung zum dritten Mal), erfasst und zum Teil zertrümmert. Neun Reisende und der Zugführer Schmid fanden dabei den Tod. Eine Anzahl Davoser Ärzte, deutsche Internierte, die Davoser Feuerwehr und militärische Hilfe aus dem Engadin trafen rasch auf der Unglücks stätte ein.

Die Räumungs- und Rettungsarbeiten konnten so gefördert werden, dass die Aufnahme des durchgehenden Verkehrs schon am 1. Mai morgens wieder möglich war.

Um ähnliche Katastrophen zu vermeiden, wurde sofort eine aus zwei Abschlusssignalen bestehende Sicherung erstellt, die es ermög lichte, jeden Zug in genügender Entfernung von der Gefahrenstelle aufzuhalten. Beim Anbrechen der Lawine hatte ein Wachtposten auf der Alp Drusatscha einem solchen auf der Bahnlinie sofort telephonisch den Befehl zum Schliessen der Signale zu erteilen. Seit 1940 wird die Lawine in geeigneten Zugspausen durch Schiessen mit Minenwerfern künstlich gelöst, so oft die Schneeverhältnisse dies als anzeigt erscheinen lassen.

Der Winter 1916/1917 schloss am 1. Mai mit einer 60 m breiten und bis 7 m hohen Lawine bei km 127.700 vor dem Sasslatschatunnel unterhalb Süs, die einen Unterbruch von 24 Stunden zur Folge hatte."
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Quelle Conrad, Hans: Der Winterbetrieb der Rhätischen Bahn unter besonderer Berücksichtigung der Lawinenperiode Januar /Februar 1951. In: Bündnerisches Monatsblatt: Zeitschrift für bündnerische Geschichte, Landes- und Volkskunde. Band 1951, Heft 9

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Der Lawinenwinter 1917 in der Geschichte Graubündens.

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