Gion Caviezel beschreibt die Verheerungen von 1772 in seiner Lizenziatsarbeit mit dem Titel “Hochwasser und ihre Bewältigung anhand des Beispiels Oberengadin”:
Am 20. August 1772 setzte in Chamues-ch sowie wahrscheinlich auch in den übrigen Oberengadiner Gemeinden leichter Regen ein. Dieser wurde ab 4. September bedeutend stärker und liess die Gewässer der Gemeinden anschwellen.
In den darauf folgenden Tagen traten der Inn und seine zufliessenden Wildbäche vereinzelt über die Ufer. In Sils mussten die Menschen infolge der Hochwassergefahr zum Teil für mehrere Tage ihre Häuser verlassen.
Der Weiler Surlej bei Silvaplana wurde, wie auch andere Dörfer, von den Wasser- und Geröllmassen verwüstet. Einige Häuser waren sogar in Gefahr, von den Wassermassen fortgerissen zu werden.
In Silvaplana bedeckten der Julier- und Surlejbach die Güter mit Schutt und zerstörten zudem eine Brücke. Die Landschaft von Samedan wurde vom Hochwasser vollkommen überflutet, und auch das in der Beverser Au Las Agnas stehende Wirtshaus war ringsum von Wasser umgeben.
Ebenso war die ganze Ebene von Chamues-ch überflutet. Im Dorf Chamues-ch rissen die Wassermassen der Chamuera, nachdem sie an verschiedenen Stellen die Wuhren durchbrochen und zerstört hatten, drei Häuser, zwei Sägemühlen, drei Brücken und einigen Boden mit sich. Die über die Ufer getretenen Wassermassen waren drangen auch in Hausflure/Innenhöfe, in Keller und in Ställe ein und bedeckten bzw. füllten diese mit Schlamm und Geröll – so auch jene Häuser auf der rechten Flussseite des Inns in La Punt.
Chamues-ch’s Wiesen wurden mit Kies und Steinen bedeckt. Im Haus des Hauptmanns von Albertini starb ein junger Davoser in den Schlammmassen. Seine Leiche wurde erst im folgenden Sommer gefunden.
Die Chamuera verwüstete ausserdem zwei Alpen so stark, dass sie in der Folge nicht mehr besetzt wurden. Für wie lange, ist aus den Quellen aber nicht ersichtlich. Die ins Tal Chamuera führende Strasse wurde ebenfalls grösstenteils weggespült.
Aufgrund der starken Regenfälle brachen auf der rechten Talseite des Engadins nicht nur die Wildbäche aus, sondern es gingen auch einige Erdrutsche nieder. Zudem schwemmten die Wassermassen im Engadin unter anderem 27 vorwiegend neue Brücken fort. Darunter auch die Innbrücken von La Punt, Madulain, Zuoz und S-chanf.
Die Alpensüdseite erlitt aufgrund des Hochwasserereignisses ebenfalls zahlreiche Schäden. Im Bergell wurden beispielsweise die Äcker und Wiesen oberhalb Porta von den Wassermassen so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass sie in der Folge für längere Zeit nicht mehr bearbeitet werden konnten.
Der Fussweg, der von St. Cassian dicht an einem Felsen entlang nach Borgonovo führte, wurde ausserdem zu einem neuen Arm der Maira.
Auch in der Grafschaft Chiavenna und im übrigen Veltlin wurde durch das Hochwasser viel Boden fortgeschwemmt.
Das Hochwasserereignis verursachte im Puschlav grosse Schäden, wobei unter anderem grosse Kulturlandflächen verwüstet und Häuser zerstört wurden. Der Poschiavino beschädigte im Tal Varauna einige Brücken. Ausserdem überdeckte ein infolge der Regenfälle niedergegangener Erdrutsch den unteren Teil des Talkegels mit Geschiebe.
Überschwemmungen erfolgten auch in weiteren Teilen Graubündens und im Tirol.
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Quelle Gion Caviezel: Hochwasser und ihre Bewältigung
anhand des Beispiels Oberengadin 1750 – 1900. Lizenziatsarbeit, Bern, 2007